even though I know that

you and I

would never find the kind of love we wanted

together alone

I find myself missing

you and I

 

(country joe mcdonald)

 

 

Ciao bella

I.

Sie trafen sich zufällig am Fluß. Er stand auf einem der Pfeilerreste, der, nur über einen schmalen Damm durch das trübe Wasser erreichbar, aus der Strömung aufragte wie ein steinernes Schiff.

Er stand da und sah aufs Wasser hinaus.

"He, alter Mann, was tust du da?" rief sie.

Er wandte langsam den Kopf, sah sie an.

Ein junges Mädchen, schlank, langes braunes Haar, ein unförmiges, verwaschenes Baumwollkleid, dünne Beine, Ledersandalen.

"Ich sehe zurück".

Sie schüttelte den Kopf. "Stimmt nicht. Du siehst den Fluß hinunter. Das ist vorwärts."

"Aha."

Er rieb sich gedankenverloren den Hals mit der linken Hand, während er wieder hinausstarrte wie zuvor.

"Ich dachte an früher." Er ging in die Knie, sah hinunter auf das leise gurgelnde Flußwasser "Es ist sauber." brummte er .

Sie lachte hell auf. "Sauber? Du bist komisch. Es ist schlammig und trübe."

Er richtete sich auf, reckte sich und sprang dann schnell, mit wenigen kurzen Sätzen, hinab auf den Damm und stand vor ihr.

Sie wich einen halben Schritt zurück, hob eine Hand.

Sein Gesicht war dunkel, aber sein Blick war offen, neugierig betrachtete er sie, und soweit sie das erkennen konnte

hinter dem schütteren, braunen Bart, grinste er ganz leicht.

Er trug Kleidung aus der alten Zeit, ein schmutziges helles Hemd, an dem die Ärmel fehlten,

eine Weste mit vielen Taschen, eine speckige Leinenhose und Schnürschuhe,

Er sah nicht gefährlich aus.

"Du bist nicht so alt wie du von weitem aussiehst", meinte sie.

Jetzt grinste er deutlich.

"Ich bin so alt wie diese Welt. Ein Dinosaurier ."

"Ein was ?"

" Ach..vergiss es. Ein Scherz."

 

II.

Sie schlenderten am Fluß entlang , wo sich noch immer ein breiter Pfad erstreckte duch das Geröll , rechts ein Gewirr von Steinen und Gestrüpp, dahinter der Wald aus Palmen, Akazien und hunderterlei Büschen, Ranken und verschwenderisch blühenden Pflanzen und ab und zu die Reste von Mauern, trotzig geometrisch gerastert, vertraut und doch schon fremd, links niedriges Gehölz und einzelne Platanen, Reste von eisernen Zäunen, dann der ruhig strömende Fluß, dahinter das andere Ufer, ein Spiegelbild dieser Seite, nur das aus der Ferne die Ruinen deutlicher erkennbar waren, ein helles Muster im dunklen Saum des Waldes.

Sie ging voraus, und er folgte, einen Schritt zurück, die Hände in den Taschen, sah ihren kleinen raschen Bewegungen zu, ihrem wehenden Haar, ihrer hellen Haut am Ansatz des Halses.

Sie wandte sich um, dunkle Augen, lachend, scheu. "Du warst früher hier? "

"Ja. Ich war schon einmal hier . Damals gab es hier Autos."

"Autos! Die gibt’s auch heute noch . Da. Und da drinnen. Jede Menge". Sie deutete nach allen Seiten. "Im Gebüsch. Sie stinken. Und man kann sich leicht verletzen."

"Aber als ich hier war., fuhren sie noch . Tausende, Millionen Autos. Hier auf dieser Straße,

den Tiber entlang, am anderen Ufer auch, über die Brücken, überall."

"Ich weiß. Mama hat mir davon erzählt."

"Die Brücken sind alle weg."

"Die an der alten Burg steht noch."

"Wird sie bewacht?"

"Sicher. Aber der Übergang kostet nichts."

Sie blieb stehen.

"Du willst auf die andere Seite ?"

Er nickte. "Ich möchte den Dom sehen."

"Du weißt, daß man nicht rein kann?"

"Hab ich gehört."

Sie zog die Schultern hoch, sah zu Boden, dann hoch.

"Ich weiß, wie man reinkommt."

Er folgte ihrem Spiel, legte den Kopf schräg.

"Gut. Zeig‘s mir."

"He, Vorsicht, alter Mann!"

Er lachte auf, machte plötzlich einen Schritt auf sie zu, die Hände ausgestreckt.

Sie wich spielerisch aus, drehend entlang seinem Arm, und die merkwürdige Vertrautheit dieser Berührung verwirrte sie beide für einen Augenblick.

Er trat einen Schritt zurück.

"Zeigst du mir den Weg?"

"Was krieg ich dafür ?"

Er hielt die offenen Hände hoch. "Geld hab ich keins. Aber das hier."

In einer fließenden Bewegung griff er sich in den Nacken und hielt plötzlich ein kleines, silbernes Ding in der Hand.

"Eine Pistole." Die Bewegung wiederholte sich, und das Ding war weg.

"Ich schieß dir was zu essen."

Sie rollte mit den Augen und sah in einer komischen, schnellen Bewegung zum Himmel.

"Ich glaube nicht, daß das nötig ist. Aber in Ordnung. Wir müssen uns beeilen ".

Der Weg folgte dem Fluß in eine Biegung nach rechts, und dann lag

die Brücke vor ihnen.

Sie bot einen seltsam unwirklichen Anblick, weiße Bögen aus massivem Stein,

scheinbar schwerelos sich spiegelnd im Fluß vor der grünen Wand des Uferwaldes.

Dahinter erhob sich ein mächtiges steinernes Bauwerk in den blauen Himmel.

"Wir müssen vorsichtig sein."

Sie zeigte hinauf zur Burg.

"Es gibt Löwen da oben."

 

III.

"Wer ist das?"grunzte der Brückenwärter. Er trug eine Uniform, dunkelblau mit goldenen Tressen. Bei genauem Hinsehen konnte man unzählige Flickstellen erkennen, alle haarfein vernäht mit immer anderem, blauen Garn.

Sein eisgraues Haar war sauber geschoren.

"Ein Tourist !" Sie hatte sich direkt vor ihm aufgebaut , wippte nervös auf und ab.

"Komm Baba, lass uns durch ! Er will den Dom sehen. Es ist schon spät."

Sie war fast einen Kopf größer als er, seine Würde schwand hinter ihrer zappeligen Präsenz. Er winkte unwirsch und wandte sich ab.

Sie passierten den kleinen Unterstand auf dem schuttübersäten Brückenkopf. Der Wärter zog sich zurück in den Schatten, der Lauf seines automatischen Gewehrs blinkte in der Sonne.

Die Fahrbahn vor ihnen war frei. Deutlich erkennbar, leuchteten immer noch gelbe Fahrbahnmarkierungen im gerissenen Asphalt. Dazwischen wucherte Gras und große Blumen mit rosa Blüten.

"Früher waren hier viele Touristen. Tausende. Viele Tausende. Die Stadt war voll davon."

Sie wedelte mit den Armen.

Er nickte. "Ich weiß. Es war laut."

"Kaum zu glauben."

Sie verliessen die alte Brücke und bogen nach links. Die Stille war beinahe greifbar.

Ihre Schritte hallten überlaut auf dem staubigen Pflaster der uralten Straße.

Dieser Teil der Stadt war ausgebrannt. Sie folgten einer schnurgeraden Schneise zwischen meterhohen Schuttkegeln , von schwarzen Ruinenzacken gekrönt Nur wenige Pflanzen wucherten zwischen den Schuttbergen, dürres Gesträuch und staubiger Lorbeer.

Schattige Pfade wanden sich zwischen die Hügel, verschwanden in dämmerigen Höhlen zwischen rostigen Autowracks.

"Hier wohnt niemand mehr. Ungesund."

Und dann wichen die Ruinen zu beiden Seiten zurück., außer Sicht . Da waren Säulen, ein

riesiges Rund von Säulen, um einen ungeheuren leeren Platz und dahinter ein Gebirge von weiteren Säulen, Pfeilern und Bögen, und darüber die unmöglich hohe Kuppel, völlig unversehrt, wieder säulengekrönt, sich verlierend im blauen Himmel.

"Sankt Peter," sagte sie mit Besitzerstolz. "Man sagt, früher habe Gott hier gewohnt."

 

IV

Sie überquerten den endlos weiten Platz , und die weißen Stufen des Doms wuchsen vor ihnen empor. Aus der Nähe wirkte das Bauwerk weniger überirdisch , aber immer noch würdevoll und unnahbar.

"Früher waren hier überall Knochen."

Er sah überrascht zu ihr hin. Sie stieß mit dem Fuß an einen undefinierbaren Gegenstand, eine Tasche vielleicht.

"Mama sagt, die Leute kamen von überall her, und wollten zu Gott. Aber der Dom war verschlossen. Dann kam das Feuer und irgendwas in der Luft. Sie starben alle."

Sie nahm seine Hand und zog ihn nach rechts. Ihre Hand war trocken , warm und sehr klein.

"Die großen Tore sind immer noch verriegelt. Wir müssen hier rüber, um rein zukommen."

Er folgte ihr in eines der mächtigen Gebäude jenseits des Säulengangs. Sie führte ihn, und er verlor augenblicklich jede Orientierung. Sie wandten sich durch dunkle hohe Hallen voller Schutt, niedrige Durchgänge im Zwielicht, und streiften durch lichtflirrende Innenhöfe voller

Blumen und durch kühle Höfe, in denen einsame, bemooste Statuen in den Schatten wachten. Dann erreichten sie eine Treppe hinab in schattiges Dunkel. Sie tasteten sich durch einen halbdunklen Gang aus groben Steinquadern, vorbei an hölzernen Kisten und allerlei Gerät. Die Dunkelheit nahm zu, und dann waren sie von Schwärze umhüllt.

"Es ist nicht weit." flüsterte sie. "Aber es gibt kein Licht."

Sie tasteten sich voran, durch mehrere Räume voller Gerümpel und durch steinerne Torbogen. Ein Scharren ertönte und leise rythmische Geräusche , wie von Pfoten. Er zuckte zusammen, die Pistole lag in seiner Hand, ehe er sich dessen bewußt war.

"Eine Katze," hauchte sie. Im gleichen Moment fühlte er einen kleinen warmen Körper, der sich an sein Bein drückte. Gleichzeitig ertönte ein lautes, forderndes Schnurren, das ihr atemloses Flüstern bei weitem übertönte. Seine Spannung entlud sich in einem lauten Lachen, und sie fiel prustend ein. Die Katze verschwand verschreckt im Dunkel.

"Weshalb flüstern wir eigentlich?" sagte er in normaler Lautstärke. "Weil wir eine Scheißangst haben.", antwortete sie etwas lauter als nötig und kicherte los.

Sie lachten beide in das Dunkel hinaus. Dann stellte er verblüfft fest, das er sie in den Arm genommen hatte, und ließ los.

Nach wenigen Minuten erreichten sie die Treppe. Er war eine steile Wendeltreppe aus gehauenem Stein.

"Das ist einer der Pfeiler des Doms. Die Treppe führt hinauf in die Kirche."

V

Das Klappern von Sandalen auf Stein, das Rascheln eines Sommerkleides, das Murmeln

von Gebeten, das hohle Scheppern einer Münze im Opferstock. Der Geruch von Sonnencreme und Alter, Staub und Weihrauch . Halblautes Getümmel, Menschen allein, zu zweit , in Gruppen versammelt, gedämpfte Geschäftigkeit , Sonnenbrillen im Halbdunkel

das Aufblitzen von nackter Haut unter züchtig schwarzem Wollschal.

Flirrender Staub dreht sich in Säulen von farbigem Licht, herab aus den schattigen Kronen der steinernen Bäume, hinab zu den spiegelnden Seen aus Marmor und geschliffenen Granit. Im Schatten schimmern Geistergesichter von Gold, wogen Schleier von Brokat.

Flechtwerk aus edlem Holz, kühl und schimmernd.

Eine Monstranz aus schwarzem Basalt, mit Rubine besetzt wie leuchtendes Blut.

Eine traurige junge Frau aus weißem Stein, die einen Toten in ihren Armen hält.

Er blinzelte.

Das Licht ist grell, farbiges Glas bedeckt den Boden wie bunter Hagel. Das hölzerne Gestühl ist schmutzig und verkratzt, teils seitlich zu meterhohen Haufen aufgetürmt. Das Hauptschiff ist freigeräumt , Bänke sind aufgestellt wie eine Zirkusarena , und Heiligenfiguren, mit Farbe beschmiert, bilden eine steinerne Artistengruppe.

Im Seitenschiff baumeln, kaum erkennbar , eine Reihe von Skeletten von der hohen Decke herab.

" Die Leute waren damals ein bißchen verrückt", sagte das Mädchen.

Er spürte ein Kratzen in der Kehle, wie ein unterdrücktes Lachen.

"Wo sind diese Leute ?"

"Die sind alle längst weg. Mamma sagt, sie hätten eine Zeitlang hier gehaust. Sie predigten wirres Zeug, verlangten Opfergaben. Sie waren nicht beliebt. Es gab Ärger, und dann zogen sie weg." Sie hob die Schultern. "Ist schon lange her.."

Er sah sich um, und da war die weiße Frau.

Nicht eine Sekunde war vergangen. Noch immer sah sie den Toten an mit dem gleichen traurig gelassenen Blick.

Damals hatte es ihn an seine Schwester erinnert, ihre tränenlose Trauer über eine überfahrene Katze.

Jetzt lachte er leise.

Das Mädchen war hinzugetreten, strich der Madonna sanft über das steinere Gesicht.

"Sie ist schön". meinte sie.

"Nicht so schön wie du."

Sie errötete. "Vielen Dank."

Er grinste."Du bist jung", sagte er. "Sie ist fünfhundert Jahre alt."

Er wandte sich ab, während sie noch kicherte.

"Hier gefällt‘s mir nicht. Komm, wir gehen hoch aufs Dach."

Im Zentrum des Doms erhob sich immer noch auf wuchtigen, gedrehten Säulen

aus Stein der Baldachin über dem heiligen Stuhl.

Der gewaltige Thron war leer, aber zu seinen Füßen lag ein Skelett in zerfallenen

weißen Gewändern.

"Man sagt, der Papst sei hier gestorben, gleich nachdem es passierte. Man hat deshalb niemanden hereingelassen. Vielleicht war er das, wer weiß." Sie zog die Brauen hoch.

"So viele sind gestorben."

Er sah nur flüchtig hin.

Sie erreichten den Aufgang in einem der Hauptpfeiler. Die steile Wendeltreppe endete

in einem kreisrunden Umgang hoch über dem päpstlichen Baldachin. Über ihnen wölbte sich

die gewaltige Kuppel.

"Hier entlang", deutete sie. Eine schwere Holztür hing schief in den Angeln. Sie zogen beide daran, und goldenes Abendlicht flutete herein. Sie traten hinaus auf das flache Dach der Basilika.

 

VI

Sie lehnten an der wuchtigen steineren Balustrade und sahen hinaus . Vor ihnen erstreckte sich eine grüne Wildnis, von weißen Ruinenriffen durchzogen. In der Ferne erhoben sich bizarre Türme, von Vegetation eingesponnen. Direkt voraus ragten die Reste antiker Tempel aus dem Dickicht ; das Forum.

Rom, die ewige Stadt.

"Was ist damals geschehen?" fragte sie.

"Weiß von deinen Leuten keiner Bescheid?"

"Nein".

Er zog die Augenbrauen hoch . "Ich weiß auch nichts . Ich war noch ein Kind."

"Schade."

"Man sagt, es war eine Art Erdbeben. Kein Krieg. Keiner war Schuld." Er grinste schief.

"Irgendwie bebte die ganze Erde. Daran erinnere ich mich noch. Es war ein scheußliches Gefühl, so als ob der Boden unter dir wegflöge. Aber das war schnell vorbei. Ich war damals

auf dem Land, und die meisten Gebäude hielten stand. Wir begannen mit den Aufräumarbeiten und warteten auf Hilfe. Dann erfuhren wir, das die Erde anscheinend überall gebebt hatte. Überall auf der Welt. Als ob die Erde sich geschüttelt habe. Niemand kam zur Hilfe. Im Gegenteil. Bald kamen Fremde, um bei uns Schutz zu suchen, bettelten um Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Und dann brach einfach alles zusammen. Das Netz, die Telefone, dann der Strom. Immer mehr Leute kamen, und sie nahmen sich mit Gewalt, was sie brauchten. Wir flohen vor dem Winter in die Berge. Es gab keinen Treibstoff mehr, kein sauberes Wasser. Viele starben. Meine Leute auch."

"Das tut mir leid."

Er schüttelte den Kopf. "Es waren so viele. Ich habe irgendwie kein Gefühl dafür. Meine Schwester ... ich will darüber nicht reden." Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, rieb sich den Nacken "Ich schloß mich damals einer Bande an... Aber was soll‘s. Anscheinend passierte überall auf der Welt das gleiche. Chaos, Zusammenbruch. Es gab Kriege. Aber ich weiß davon nichts Genaues . Und die Länder existieren schon lange nicht mehr."

"Außerdem wurde es wärmer."

"Ja richtig. Hier stieg die Temperatur um fast 10 Grad. Aber in anderen Teilen der Welt wurde es sehr viel kälter. Zum Beispiel in Nordamerika. Anscheinend sind die Pole nicht mehr an den alten Stellen."

Sie sah ihn mit großen Augen an.

"Kaum zu glauben, nicht war?"

"Was sind Pole?" fragte sie.

"Was ist Amerika?" fragte er im gleichen Ton zurück.

"Weiß ich auch nicht!" Sie zog die Stirn in Falten. "Ein Land. Weit weg. Ist mir egal!"

Er lachte. "Entschuldige. Das ist auch nicht mehr wichtig." Er strich ihr sanft über das Haar, aber sie entzog sich ihm schroff.

Eine Zeitlang starrten sie schweigend hinaus . Die Sonne sank allmählich hinter ihnen, und

der Schatten des Doms kroch hinaus in die grüne Dämmerung.

"Wie heißt du eigentlich, alter Mann ?"

"Franco."

Sie lachte auf.

"Was ist daran lustig?"

"Nichts." Sie schüttelte den Kopf. Ihr langes Haar wehte ihm Wind. Er fing eine Strähne und spielte mit dem Ende. Sie zog den Kopf zur Seite, bis er losließ, und strich das Haar zurück.

"Hast du eine Frau?", fragte sie dann.

"Ja. Sicher."

"Auch Kinder?"

"Zwei."

"Ich habe einen Freund."

"Klar."

Er sah sie nachdenklich an, dann richtete sich auf und streckte sich. "Wir müssen zurück. Ich wollte dir noch etwas zeigen."

Sie drehten sich um.

Zwischen ihnen und dem Ausgang räkelte sich ein Löwe in der Sonne.

Er brachte seine Waffe automatisch in Anschlag. Mit der anderen drückte er das Mädchen hinter sich . Er warf ihr einen kurzen Blick zu und sah, das sie ein langes, spitzes Messer in der Hand hielt.

In einem großen Bogen pirschten sie sich auf den Ausgang zu. Trotzdem näherten sie sich der Raubkatze mit jedem Schritt. Es war unvermeidlich, den Löwen in drei Meter Abstand zu passieren. "Eine Löwin. Sie hat gefressen. Sie ist satt."

Er nickte kaum merklich. "Hoffentlich."

Die Katze beachtete sie nicht. Obwohl die Terrasse keinerlei Deckung bot, schien sie die beiden seitwärts wie Krebse schleichenden Menschen nicht wahrzunehmen. Nach endlosen Minuten erreichten sie die Tür. Er zog sie langsam auf, und in diesem Moment wandte die Löwin den Kopf und sah zu ihnen hinüber. Seine Pistole zuckte hoch, und für Sekunden starrten sich ihre Augen über die silbern blitzende Waffe an, dann wandte die Löwin beinahe gelangweilt ihr mächtiges Haupt ab.

Sie schlüpften durch die Tür und drückten sie hinter sich zu.

"Kein Tag zum Töten", meinte er und und verstaute die Waffe .

 

VII

Der Weg zurück durch Kühle und Schatten war lang, und beide waren froh, als sie das warme Abendlicht der Piazza erreichten.

Im Osten zogen dunkle Wolken auf. " Der Abendregen setzt bald nach Sonnenuntergang ein.

Wir sollten uns beeilen."

Sie passierten den mürrischen Brückenwärter im Laufschritt, und bald erreichten sie die

Reste der alten Brücke, die einmal Ponte Mazzini hieß.

Es war beinahe dunkel. Der östliche Himmel war schwarz von Wolken.

Er winkte sie weiter, zum Waldrand. wo sich zwischen hohen Bäumen eine schmale Lücke auftat, die früher eine Seitenstraße war.

Sie folgte ihm zögernd.

Er verschwand plötzlich in einem Gebüsch, wobei er einige kürzlich geschnittene Aste zur Seite warf.

Da stand ein Auto.

Ihre Augen wurden rund. Scheu berührte sie das beinah rostfreie Blech der Motorhaube,

strich über die kaum zerkratzte Windschutzscheibe.

Der Wagen war hochbeinig, mit mächtigen Rädern auf dicken Gummireifen. Auf dem Dach war ein Träger montiert, und eine kräftige Plane bedeckte allerlei Gerät. Seitlich waren

Ersatzräder angebracht, dazu verschiedenes Werkzeug.

Franco hatte die Fahrertür geöffnet, lehnte mit Besitzerstolz auf dem Rahmen.

"Das funktioniert?", fragte sie, ehrlich beeindruckt.

Er nickte." Sechs Zylinder Ottomotor, einfache Technik, leicht zu warten. Braucht viel Benzin,

aber ich finde immer noch welches."

Er sah ihren skeptischen Blick.

"Draußen sind die Straßen besser. Es gab früher Autobahnen, weißt du. Vierzig Meter breit.

Außer an den Flüßen kommt man eigentlich gut voran. Komm, setz dich mal rein."

Sie folgte seiner Einladung, ließ sich auf dem Fahrersitz , der mit Leder bezogen und mit Decken ausgelegt war, nieder und spielte mit dem Lenkrad.

Sie wandte den Kopf. Hinter dem Fahrersitz war ein kleiner Wohnraum eingerichtet, eine

Koje, ein Bord, Bücher, mit Bändern befestigt.

Sie stieg aus dem Wagen, um ihm Platz zu machen. Er hantierte herum, und dann flammte ein Scheinwerfer auf. Sie sprang erschrocken zur Seite . Das helle Licht machte ihr klar, das die Sonne mittlerweile untergegangen war .

"Wohin fährst du?"

"Nach Norden. Vielleicht über die Berge. Es gab dort früher viele Straßen. Und dann nach Osten. Zum Baikal."

"Wohin?"

"Vor vielen Jahren habe ich gehört, im Osten sei ein neues Land entstanden, am Baikalsee.

Das ist ein riesiger Süßwassersee. Früher war es da sehr kalt, aber das hat sich geändert.

Es soll sehr schön sein dort. Viele Menschen, genug Nahrung für alle."

Eine Windböe strich durch die Baumwipfel, und dann fielen die ersten Regentropfen.

"Ich muß gehen", sagte sie und lächelte. "Es war ein schöner Nachmittag."

Er nickte.

"Komm mit mir." sagte er.

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht , die der Wind ihr zerzauste, sah ihn an, schüttelte leicht den Kopf.

Er nickte und stieg langsam in den Wagen.

Sie sah ihn im Schatten versinken, und selsamerweise glaubte sie, seine Augen noch im Dunkel zu erkennen. Der Blick war wie eine Berührung, sanft ,suchend und traurig.

Sie trat zurück und hob die Hand.

Und die Welt stand still in diesem Moment, als sie seinen Blick im dunklen Wageninnern verlor. Ihr war als schnellte das Fahrzeug fort von ihr, an einem unsichtbaren Gummiband hinaus in die schwarze Stille, und in der Reglosigkeit dieses Moments fühlte sie eine fast unerträgliche Spannung.

...Kontinente halten für einen Moment inne in ihrem jahrmillionenlangen Drift, zaudernd, für einen Augenblick nur, doch die Spannung steigt unerbittlich und rasend schnell, und die ungeheuren Massen geben resignierend nach, schnellen vor und zurück, finden sich ein in den alten Rhythmus, und die Welt beginnt neu...

Die Maschine sprang dröhnend an, und der Wagen rollte aus den Schatten an ihr vorbei.

Sie winkte ihm nach, als er langsam zur Hauptstraße rollte und dann, ohne zu halten, nach links verschwand.

Als sie die Straße erreichte, verhallte das Motorgeräusch in der Ferne.

 

VIII

"Wo warst du, Francesca?" fragte die Mutter.

Sie warf ihr nasses Kleid in die Ecke und rubbelte sich die Haare.

Der Regen trommelte auf das Blechdach.

"Ich war mit einem Mann zusammen."

"Einem Mann?"

"Ja. Ein Tourist. Er war schon älter. Fast wie du, entschuldige." Sie lachte.

"Er wollte den Dom sehen. Ich habe ihn hingeführt. Mama, er hatte ein Auto!"

"Ein Auto, das noch fährt ?"

"Ja! Er wollte damit nach Norden. Zu irgendeinem See."

"Du hättest ihn überreden sollen, hierzubleiben."

"Aber Mama!"

"Du warst lange mit ihm zusammen. War er nicht nett?"

"Doch, schon." Sie warf das Handtuch dem Kleid hinterher.

"Er wollte, das ich mit ihm gehe."

Sie sahen sich sekundenlang an.

"Er hat eine Familie."

Die Mutter nickte.

"Natürlich. Geh, zieh dir was an."

"Ich hatte ihn gern," sagte Francesca leise. "Vielleicht sehe ich in einmal wieder."

Sie griff ihr Kleid. "Vielleicht auch nicht. Die Welt wird davon nicht untergehen."

Sie sahen hinaus in den strömenden Nachtregen.

Das Rauschen und Trommeln schluckte alle Geräusche.

"Nein," sagte die Mutter leise. "Das tut sie nie."

 

 

 wk 5/2000

 

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