Born to run

04.01.1979

Rinus klemmte sämtliche Finger in den Schlitz zwischen Türrahmen und Seitenfenster und drückte. Die Scheibe rutschte verblüffend leicht. Der Spalt war jetzt acht Zentimeter breit. Das reichte, um den Arm bis zum Ellenbogen rein zuschieben und abzuknicken und das Knöpfchen zu ziehen. Die Tür war auf.

Eine alte Dame war interessiert stehen geblieben. "Schlüssel steckenlassen", grinste Rinus. Die Oma lächelte mitfühlend. Rinus öffnete die Tür und liess sich in den Schalensitz fallen. Er hatte das Gefühl, auf der Straße zu sitzen. Aber die Rundumsicht war gut. Getönte Scheiben, die ganze Welt in warmes Grün getaucht. Er nickte der Oma zu. Die lächelte wie angeknipst und rührte sich nicht vom Fleck. Rinus sah sich um. Blinker, Licht, Scheibenwischer, Heizung, alles klar. Schaltung, Sitz ist gerade richtig. Zündung - Rinus tastete nach dem Zündschloss, rupfte die Kabel raus und bog sie zu Häkchen. Dann trat er die Kupplung und verband die Kontakte. Der Motor sprang mit tiefem Brummen an. Rinus legte die Gurte an, dann in den ersten Gang, die Oma noch einmal mit einem freundlichen Wink angeknipst und dann ließ er den Wagen anrollen.

Die Ampel an der Kreuzung stand auf Rot. Rinus genoss die Blicke der Passanten auf dem Zebrastreifen. Er fuhr absichtlich langsam an, als die Ampel auf Grün schaltete, ließ einen Ford mit röhrender Maschine an sich vorbeipreschen. Ein Tippen auf das Gaspedal würde reichen, wenn er wollte, er wusste das und er wusste, dass der Ford-Fahrer das wusste, und er genoss es. Er bog auf den Autobahnzubringer ein und zuckelte wollüstig mit fünfzig dahin, die Maschine war beinahe nicht zu hören. Er fischte eine Kassette aus dem reichhaltigen Arsenal und drückte sie in den Schlitz des 1500-Mark-Decks. Er war angenehm überrascht, weder Boney M. noch James Last zu hören, sondern irgendetwas Jazziges, Verhaltenes, genau passend. Er beschloss, nach Koblenz zu fahren.

An der Auffahrt stand ein Mädchen.

Freda mochte Autos, besonders schnelle Autos, und mochte meist auch die Fahrer. Rinus hielt direkt neben ihr. Sie öffnete die Tür, bückte sich und war überrascht, daß er so jung war.

"Hallo", lachte sie, "fährst du nach München?"

"Koblenz", sagte Rinus.

"Ah - auch gut". Sie warf ihre Tasche nach hinten und stieg ein. Rinus fuhr an, huschte auf die Beschleunigungsspur an einer Pallas vorbei und legte den dritten Gang ein. Das Motorgeräusch ändert sich abrupt und der Wagen machte einen Satz auf die Überholspur.

"Klasse, Springsteen", meinte Freda.

"Was?" - "Bruce Springsteen. Die Musik." - "Ah ja."

Rinus legte den den vierten Gang ein. Die Tachometernadel pendelte zwischen 190 und 200 km/h . Weit vorn floh ein Auto von der Überholspur.

"Ist ein Porsche, nicht war?", fragte Freda. "Hmm." - "Carrera, oder?" - "Turbo." - " "Wow. Irre schnell." - "Schnallst du dich bitte an?"

Der Wagen flog jetzt. Ein Falke, ein Gepard auf der Jagd, schnell und kraftvoll und leicht. Der Motor war auch jetzt noch nicht laut, ein heiseres Brummen, nicht brutal, nicht aggressiv, beinahe friedlich. Ein selbstbewusstes, überlegenes Geräusch. Nur wenn Rinus die Geschwindigkeit drosseln musste, weil jemand die Überholspur blockierte, die heranhuschende Silhouette nicht schnell genug erkannt hatte oder einfach nicht gewillt war, ehrfürchtig nach rechts zu weichen, dann grollte die Maschine unwillig ,dröhnte und ließ die Zelle vibrieren, der Lader heulte und irgendetwas rasselte leise und heftig wie eine Klapperschlange, bis Rinus den Motor wieder in Drehzahlbereiche trieb, die ihm behagten.

Die Musik passte wirklich gut. Sie wirkte aufgeladen, wild pulsierend, ohne jemals richtig loszugehen. Rinus wünschte, besser Englisch zu sprechen, um zu verstehen, was der Mann da sang.

"Du bist ja nicht sehr gesprächig." Freda schlug ihre Beine übereinander und schüttelte effektvoll ihr langes, dunkelblondes Haar. Rinus warf ihr einen schnellen Seitenblick zu.

"Ich heiße Rinus." Sie prustete los. "Wie der von den Peanuts? Der mit der Schmusedecke?" - "Nein, Rinus, nicht Linus. Von Marinus. Meine Eltern waren Holländer."

Ein großer Mercedes tauchte vor ihnen auf. Der Fahrer hatte Dauerblinker gesetzt. Er bemerkte den Porsche erst, als der dicht hinter ihm war. Rinus blieb zwanzig Meter hinter ihm, ließ ihm Zeit widerwillig und langsam nach rechts einzuscheren, und zog dann mit 240 km/h an ihm vorbei, ließ ihn stehen. Es machte höllischen Spaß.

"Ich heiße Freda." - "Schöner Name. Klingt germanisch." Dann schwiegen beide.

Die Kassette war zuende, hinterließ ein Loch. Ein Schild flog vorbei , 32 km bis zur nächsten Raststätte. Rinus merkte, daß er hungrig war. Der Tank war noch viertelvoll. "Wie wärs mit essen?", fragte er.

"Gute Idee. Gibst du einen aus?" - "Ich dachte , du." Freda lachte laut auf, brach dann ab und sah ihn ungläubig an. Dann lachte sie wieder.

Sie aßen Pommes frites und tranken Dosenbier. Freda hatte bezahlt. Sie wußte nicht recht, ob sie wütend sein sollte oder amüsiert.

"Ich habe eine Frage-.." Er nickte aufmunternd, nahm einen Schluck Bier. "Frag."

Sie wurde wütend. "Es scheint ja sehr lustig zu sein, im Sportwagen rumzufahren und Anhalterinnen mitzunehmen, auch, sich von ihnen das Essen bezahlen zu lassen, okay, jeder wie er will, aber ich find's unfair, wie du da sitzt und grinst. Sag mal, spinnst du, oder was?" Sie war unversehens lauter geworden, erschrak. "Du machst mich noch verrückt!", fügte sie leiser hinzu.

"Du stellst die falschen Fragen", antwortete Rinus. "Eigentlich stellst du überhaupt keine Fragen. Du redest." Er nahm noch einen Schluck. "Ihr alle redet, und wenn ihr Fragen stellt, erwartet ihr bestimmte Antworten, und wenn das Falsche kommt, hört ihr's nicht, begreift ihr's nicht. Scheiße."

Sie hatte das nicht erwartet, und sie hatte auch nicht richtig zugehört, aber sie verstand was er meinte, weil sie sah wie er sprach, und es berührte sie. Freda hatte ihre Sympathie und Antipathie immer spontan verteilt , aber diesmal war sie unschlüssig, da war plötzlich etwas so ein bohrendes Gefühl.

Der Porsche störte.

"Der Wagen gehört dir nicht," stellte sie fest.

"Nein. Ich habe ihn gestohlen." Er sah auf. "Hörst du mir zu?"

Sie fing seinen Blick, nickte langsam. "Ja. Ich höre dir zu."

Nachher gingen sie zum Wagen, nahmen Fredas Tasche heraus. "Die Musik war gut."sagte Rinus. "Echt gut.Auch der Wagen." Er musste lachen, und Freda lachte mit.

Freda hielt ein Auto an, einen großen BMW. Rinus trat hinzu, als sie mit dem Fahrer redete und grinste ihn an, und beide stiegen ein.

 

someday, girl, I don't know when

we're gonna go to that place

where we really want to go

and we'll walk in the sun

until that tramps like us

baby we are born to run

 

bruce springsteen

zurück